2023-02-14

TAGEBUCHAUSZUG EINES RENNCHEFS

Was sind die Aufgaben eines Rennchefs bei einem Rennen? Was passiert am Renntag und worauf kommts an? Fragen über Fragen. Beni Matti, Rennchef von Stöckli, gibt einen Einblick.

TAGEBUCHAUSZUG EINES RENNCHEFS

12. FEBRUAR 2023, TAG DER ABFAHRT

 

05.00 Uhr
Ich bin wach, hellwach. Und das ohne Wecker oder Weckdienst. Wie eigentlich immer, wenn ein wichtiges Rennen ansteht. Jetzt nochmals probieren einzuschlafen? Fehlanzeige!

Ich mache das jetzt schon 7 Jahre, ich kenne die Abläufe, weiss, wies funktioniert, weiss, was zu tun ist, doch eines kommt immer und immer wieder – egal, wie oft ich schon dabei gewesen bin und egal, wie gut wir uns vorbereitet haben: die Nervosität!

05.15 Uhr
Ich mache mir einen Kaffee. Nicht, dass ich wach werden müsste, das bin ich ja, aber es ist Routine. Routine, die ich in diesem Moment gut gebrauchen kann. Check E-Mail, Check Nachrichten, Check FIS News: Hat sich noch etwas geändert? Hat sich jemand gemeldet? Gibt’s noch Fragen? Und siehe da: ja, es gibt Fragen, einige Nachrichten erhalte ich via Whatsapp. Aber absolut verständlich, denn es sind einige nervös. Niemand möchte etwas falsch machen.

05.30 Uhr
Es sind noch 3.5 Stunden bis zur Streckenbesichtigung. Ich versuche mich abzulenken, die Zeit totzuschlagen. Lese die Zeitung, checke Social Media, esse Frühstück. Ab einer gewissen Uhrzeit kann ich dann auch einige Telefone machen, ohne dass ich gleich jemanden aus dem Schlaf reisse.

07.30 Uhr
Noch 1.5 Stunden bis zur Streckenbesichtigung, ich habe 30 Minuten, bis ich dort bin, heisst, ich müsste 08.15 Uhr aus dem Haus, doch ich wäre eigentlich jetzt schon bereit.

Was solls, um 08.00 Uhr gehe ich aus dem Haus und mache mich auf den Weg. An der Talstation angekommen, bin ich nicht der Einzige, der schon da ist. Unter anderem ist auch Chris, der Servicemann von Marco, schon hier. Wir unterhalten uns, tauschen uns aus. Wie immer ist Chris die Ruhe selbst, ich weiss, dass er angespannt ist, aber er lässt sich nichts anmerken, wirklich nichts!

09.00 Uhr
Endlich, wir dürfen auf die Besichtigung. Jetzt gilt: Fokus auf die Piste. Wie ist ihre Beschaffenheit? Wie gut hält sie? Wie eisig ist sie? Was sind die Tücken? Alles Fragen, deren Antworten jetzt entscheidend sind. Chris hat gestern zwei Paar mögliche Ski für das heutige Rennen präpariert. Dies macht er meistens so und hier tauschen wir uns am Vorabend gut miteinander aus. Analysieren, die Informationen, die wir erhalten haben und entscheiden anhand dessen, was sinnvoll ist.

Um am Tag vor dem Rennen bereits zwei von insgesamt 30 Abfahrtsmodellen auswählen zu können, sind einerseits Informationen, die der Wetterbericht von sich gibt, wichtig: Wie wird die Nacht? Wie kalt wird es? Was für Wetter ist am Renntag angesagt? Und andererseits die Erkenntnisse aus den Trainings: Wie ist die Pistenbeschaffenheit (wie ist der Schnee? Ist er aggressiv, grobkörnig, eisig oder brüchig?), wie ist die Kurssetzung? Denn einfach zusammengefasst: Pistenbeschaffenheit entscheidet über die Skipräparierung und die Kurssetzung entscheidet über die Modellwahl. Um nur ein Beispiel zu nennen worauf zu achten ist: Ist der Schnee eher nass, muss die Strukturierung im Belag stärker sein, so dass das Wasser weichen kann, welches durch die Reibung entsteht, wenn der Skibelag den Schnee in hoher Geschwindigkeit berührt. Hätte der Belag keine Strukturierung oder eine zu geringe, dann würde ein Vakuum entstehen und die Gleiteigenschaften wären nicht mehr vorhanden. Der Ski würde am Schnee haften bleiben. Eine schreckliche Vorstellung.

Doch nun zurück zur Besichtigung. Natürlich kommen nebst den Fakten wie Kurssetzung und Pistenbeschaffenheit auch noch die Vorlieben und Meinungen des jeweiligen Athleten hinzu. Und da wären wir auch gleich beim Stichwort. Wir treffen Marco auf der Pistenbesichtigung. Die Meinung von Marco Odermatt oder generell von einem Athleten bei der Besichtigung ist von oberster Bedeutung. Was hat er für ein Gefühl? Was ist seine Meinung? Wir tauschen uns zu dritt aus. Ein paar Tore später steht das Modell fest. Ein zügiger Entscheid ist nicht immer der Fall. Gerade wenn die Verhältnisse nicht gleichbleiben, beispielsweise sich das Wetter schnell ändert, ist die Entscheidung nicht immer einfach. Aber heute sind das Wetter und die Pistengegebenheiten so klar, dass es einfach dieses eine Modell sein muss. Chris und ich gehen weiter, Marco bleibt noch mit seinem Trainer bei diesem einen Tor stehen. Rund 30 bis 40 Minuten nimmt er sich bei einem Super-G oder Riesenslalomrennen für die Pistenbesichtigung Zeit. Bei einer Abfahrtsstrecke aber etwas kürzer, denn diese kennt er bereits durch die Trainings, die er hier schon absolviert hatte.

Es ist jetzt 09.30 Uhr – noch 1.5 Stunden bis zum Rennen. Chris macht sich auf den Weg in seinen Serviceraum, um den Ski fürs Rennen fixfertig vorzubereiten. Ich blicke auf mein Handy: 5 Anrufe in Abwesenheit. 2 Servicemänner, zwei Reporter und eine TV Station, die mir auf die Combox gesprochen haben. Ich mache mich daran, alle zurückzurufen.

10.15 Uhr
So, 5 Anrufe später, sitze ich im Team Hospitality (der Ort, wo sich die Athleten, Serviceteams und Trainer zurückziehen), jetzt heisst es definitiv: warten. Warten bis es endlich losgeht. Meine Nervosität hat sich etwas gelegt, die Ablenkung hat gutgetan. Definitiv zurück und gefühlt 10 mal stärker als am Morgen, wird sie dann spätestens bei Rennstart sein.

10.45 Uhr
Bald geht’s los. Noch 15 Minuten bis zum Rennstart. Ich mache mich auf den Weg ins Ziel, begrüsse einige Leute und Team-Betreuer, unterhalte mich über Diverses, Neuigkeiten, Taktiken und so weiter. Marco Odermatt hat heute die Startnummer 10. Es dauert also nach Rennstart noch rund 25 Minuten, bis er dann schlussendlich starten darf.

11.00 Uhr
Es ist so weit. Das Rennen beginnt. Jetzt kommts darauf an. Alles, was man in den letzten Monaten zusammen mit dem gesamten Team erarbeitet, versucht, getestet und entwickelt hat, all die Stunden, die man in Skikeller, auf der Piste, im Büro oder in der Manufaktur verbracht hat, alles kommt hier zusammen. Jetzt zählts, jetzt kann man nichts mehr ändern. Etwas mehr als eine Minute entscheiden über Erfolg oder Misserfolg und minimste Faktoren spielen nun so eine entscheidende Rolle. Ich weiss, jeder, der hier runter fährt hätte es so verdient, Weltmeister zu werden. Harte Arbeit, eiserne Disziplin und unermüdliche Leidenschaft stecken hinter jedem Fahrer und jedem einzelnen Team. Und dennoch: ich hoffe so sehr, dass es Marco schafft. Für sich selbst, aber auch für sein Team und für jeden einzelnen Mitarbeiter von Stöckli. Es wäre einfach fantastisch. Aber nun Schluss, ich muss aufhören zu träumen! Im Skisport ist Freud und Leid oftmals so nahe beieinander, dass man einfach realistisch bleiben sollte.

11.20 Uhr
Die Piste ist schwierig, der Lauf anspruchsvoll gesteckt. Fahrer um Fahrer fährt runter, es sieht so aus, als ob noch niemandem der perfekte Lauf gelungen ist. Noch 2 Fahrer bis Marco kommt. Ich analysiere jeden Fahrer, schaue, was sie gut machen, was allfällige Probleme sind. Analysen, die zwar für diese Fahrt nicht mehr entscheidend sind, aber für die noch anstehenden WM Rennen und natürlich auch für später.

11.25 Uhr
Wenn jetzt jemand meinen Puls messen würde, ich glaube, das Messgerät würde ins Unermessliche steigen. Ich atme schwer, halte es kaum aus, kann mich fast nicht mehr konzentrieren, so nervös bin ich. Marco steht am Startgate und fährt los. Ich kann fast nicht mehr hinsehen.

Jetzt geht alles schnell, ich schaue auf den Bildschirm, alles zieht an mir vorbei. Ich vergesse alles um mich herum und muss schauen, dass ich überhaupt noch atme. Ich fühle mich wie in Trance. Bitte lass es einfach grün sein am Schluss. Und… es ist… GRÜN. Oh yes, es ist GRÜN! Wahnsinn. 1.09 Sekunden schneller als der aktuell Erstplatzierte. Super! Ich weiss, das Rennen ist noch nicht vorbei, in keinster Weise, es sind noch viele starke Fahrer am Start. Aber grün ist schon mal gut. Fürs Erste. Jetzt heisst es hoffen. Ich mache mich auf den Weg zu Marco. Ich nehme seinen Rennski entgegen und möchte von ihm wissen, wie es lief, was sein Gefühl war. Gleichzeitig teile ich ihm erste Erkenntnisse mit: wie waren die Zwischenzeiten, wo hat er etwas verloren, woran könnte es gelegen haben und so weiter. Klingt verrückt, das Rennen ist noch nicht vorbei, aber es geht schon ans Analysieren. Was war gut, was war vielleicht nicht so gut. Wie war der Ski?

12.00 Uhr
Die Zeit vergeht. Fahrer um Fahrer überqueren die Ziellinie. Alle hinter Odermatt. Aber immer wieder rutscht mir das Herz in die Hose, ich halte es vor Nervosität kaum mehr aus. Eigentlich dürfte ja jetzt kein Fahrer mehr kommen, der schneller fährt als er? Oder doch? Sicher ist man bis zum Schluss nie. Zu viele Überraschungen hat es während meiner Zeit im Skizirkus schon gegeben. Vor allem während eines Grossanlasses wie dieser einer ist. Junge Athleten oder solche, die das erste Mal an eine Weltmeisterschaft dürfen, kommen oftmals ohne grosse Erwartungen an die Weltmeisterschaft. Und genau diese Unbeschwertheit, diese Lockerheit und ohne Druck an den Start gehen zu können, hat immer wieder für Überraschungen gesorgt. Denn gut fahren sie alle. Alle sind Profis und können diese Strecke bewältigen.

Während immer weniger Fahrer im Starthaus stehen, gibt Odermatt in der Zwischenzeit diverse Interviews. Es sind rund zehn davon. Erste Gratulationen nimmt er nur sehr verhalten entgegen, auch bei ihm ist die Anspannung und die Unsicherheit noch zu gross, sich bereits jetzt über einen Weltmeistertitel zu freuen.

Und ich? Ich analysiere weiterhin das Rennen – und… hoffe… hoffe einfach, dass Marco’s Zeit Bestzeit bleibt. Mittlerweile ist auch Chris im Ziel, wir tauschen Erkenntnisse aus. Diese Erkenntnisse sind so wichtig und helfen uns immer wieder. Für jedes weitere Rennen, aber auch für die Entwicklung unserer Ski.

12.40 Uhr
Der letzte Fahrer hat soeben die Ziellinie durchquert und nun steht es fest: Marco Odermatt ist Weltmeister. WELTMEISTER! Was für eine grossartige Leistung. Mir fällt ein Stein vom Herzen, ich bin erleichtert. Einfach unglaublich. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Leistung und freue mich wahnsinnig.

Und jetzt? Jetzt haben wir uns eine kurze Auszeit verdient, stossen an, feiern zusammen…. Viel Zeit fürs Geniessen bleibt aber nicht, denn die nächsten Rennen stehen wieder an und dann geht’s wieder los mit der Suche nach dem perfekten Setup…

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